Steil ist geil

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Die Radflamingos haben (schon wieder) ihren Sommerurlaub im herrlichen Südtirol verbracht. In nicht unwesentlicher Nähe des Stilfser Jochs, das bei mir Ehrfurcht und Faszination auslöst. Und leichte Panik. Obwohl Mehrfachbezwinger D. versichert hat, dass die Radflamingos es da “auf jeden Fall” hochschaffen werden. 

Der Abend vorher 
Beim Abendessen verzichte ich aus sportlichen Gründen auf den Lagrein und denke über zweistellige Prozentzahlen nach. Und dass ich in den engen Kehren keinen Platz für Pausen haben werde. Meine Lieblingspanikszene: Es ist so steil, dass ich nicht weitertreten kann und ausklicken will. Doch riesige Reisebusse und röhrende Motorräder drängeln mich an den Abgrund. Mit etwas Glück komme ich auf einer Kühlerhaube zu Fall. Und dann muss ich ja auch noch wieder runter! Was, wenn Schotter in den Kurven liegt (das zählt ebenfalls zu meinen Top-5-Panikszenarien)?
 
Prad. Kilometer 0. 
Wir schaffen es tatsächlich, vor 8 Uhr in Prad loszurollen. C. hat Knie und sich deshalb für sein knallgelbes Trekkingrad mit der besseren Übersetzung entschieden. Ich denke genau jetzt zum ersten Mal über Bonnies Ritzel und Blätter nach und bemerke, dass sie sich eher für niederrheinische Gefilde eignen als für 1800 Höhenmeter in den Alpen. Aber ich kann ja alles am besten. Also los. Keine Wolke trübt den knallblauen Himmel und die Sonne wird die schneebedeckten Gipfel gleich so richtig in Szene setzen. Wir radeln, noch im Schatten, entlang des Suldenbachs und noch ist alles so wie bei jeder anderen Tour hier auch. Die Steigung ist mäßig. Dito der motorisierte Verkehr. Hinter Tannen und Bergrücken blitzen graue Felswände hervor. 

 
Kilometer 8
Ich bin schneller als C. und rede mir ein, dass es an meinem hervorragenden Trainingszustand liegt (und nicht an C.s Knie oder der Tatsache, dass ich mit Bonnies Übersetzung nicht langsamer treten kann). Ich treffe auf S. aus Höxter, der heute zum zweiten Mal in dieser Woche “ganz entspannt und aus Spaß” den Stelvio hochfährt. Deshalb passt sein Tempo zu meinem und wir beschließen gemeinsam weiterzufahren. Mein Glück! S. weiß fast alles über den Anstieg und erzählt, wo es frisches Wasser gibt, wo die fiesen Rampen stecken (im Waldstück) und dass die Aussicht hinter jeder Kurve auf jeden Fall noch spektakulärer wird. Letzteres halte ich kaum für möglich, aber es stimmt. 

Kehre 48 
Merke: nett plaudern lenkt ab. Ich denke überhaupt nicht darüber nach, ob ich es schaffen werde und muss kein einziges Mal meine Flamingo-Mentaltechnik™️ bemühen. Auch meine innere Bergfahr-Beatbox (siehe °fahrstil Ausgabe 32) bleibt still. Und die Aussicht auf 47 weitere Kehren lässt mich – seltsamerweise – keineswegs entmutigt am Straßenrand zusammenbrechen.

Mehr Kehren
Ich atme. S. und ich plaudern. Ich erstarre hinter jeder Kurve, weil sich noch mehr Kurven auftun, die noch steiler aussehen. Aber vor allem ist es schön. Wunderschön. Und der Verkehr hält sich auch noch in Grenzen. Außerdem ist in den Spitzkehren genug Platz, um vom Rad zu steigen und Banane, Riegel und Co. zu verdrücken und dabei die Aussicht zu genießen. Wir fahren und fahren. Nicht schnell, aber auch nicht megalangsam. 

Kehre 22
Das Ziel ist in Sichtweite. Über uns türmt und schlängelt sich die in den Fels gehauene Passstraße auf. S. und ich machen nochmal eine Pause, und die zwei Radler, die wir abwechselnd überholen und bzw. von denen wir überholt werden, pausieren ebenfalls. Wir sitzen auf einer Mauer und …. PFÜÜÜÜÜÜÜÜÜT! Ein lautes, gellendes Pfeifen ertönt. Will mich jemand warnen, mir das hier weiter anzutun? Nein, viel besser! Murmeltiere! Ich bin begeistert, weil ich noch nie welche gehört oder gesehen habe. 

Die Murmeltiermutter ließ sich bereitwillig von S. fotografieren

Und dann taucht ein großer Mann auf einem gelben Trekking-Rad auf. C.! Wir jubeln, dass wir uns wiedersehen und ich erzähle aufgeregt von den Murmeltieren. Wir schieben uns noch ein paar Snacks rein, die unsere Performance pimpen sollen. Weil ich so im Flow bin, fahren S. und ich schon mal weiter. “Wir sehen uns oben!”

Sehr weit oben
Wir fahren da, wo es auf den Stilfser-Joch-Fotos am spektakulärsten aussieht. Schräg am Hang. Sehr weit oben über allem. Jede Spitzkehre ist eine Herausforderung. Wenn niemand in Sicht ist, fahre ich sie weit außen an, um so für einige wenige Meter fast keine Steigung zu haben (wie ich mir einbilde). Die Aussicht wird immer atemberaubender, das Wetter ist perfekt und ich habe gute Beine. 

Am höchsten
Ich trete. Schnaufe. Trete gleichmäßig. Freue mich. Da sind Gebäude! Die Kirmes am Gipfel, von der D. berichtet hat. Ich beschließe, dass ich Tour-de-France-Fahrerin bei einer Bergankunft bin und jede Sekunde zählt. Jubeln die Motorradfahrer mir gerade zu? Nun, warum auch nicht? Das ist nur angemessen. Endlich! Ich bin oben! 2.760 Meter über dem Meeresspiegel. Ich recke meine Faust in die Höhe. Yaaaay! Und da kommt auch schon C.! 

Natürlich posieren wir für das obligatorische Pass-Schild-Foto. Außerdem shoppe ich (als Beweis) einen Stilfser-Joch-Aufnäher und dann teste ich selbstverständlich den Schnee! Und während wir uns oben vor der Tibet-Hütte mit Cola und Kalorien belohnen, schwebt ein Bartgeier tief über uns hinweg. Ein Traumtag!